Gaudenz Geiger / Marc Bernheim10.06.2020

COVID-19: Verordnung über insolvenzrechtliche Massnahmen zur Bewältigung der Coronakrise

Der Bundesrat will mit gezielten Massnahmen coranabedingte Konkurse und den damit verbundenen Verlust von Arbeitsplätzen verhindert. Anlässlich seiner Sitzung vom 16. April 2020 hat der Bundesrat die Verordnung über insolvenzrechtliche Massnahmen zur Bewältigung der Coronakrise (COVID-19-Verordnung Insolvenzrecht) verabschiedet. Die Verordnung sieht eine vorübergehende Entlastung von der Pflicht zur Überschuldungsanzeige, sowie die Möglichkeit einer befristeten, unbürokratischen COVID-19-Stundung für kleine und mittlere Unternehmen (KMU) vor. Die COVID-19-Verordnung Insolvenzrecht tritt am 20. April 2020 um 00.00 Uhr in Kraft und gilt für eine Dauer von 6 Monaten (vorbehältlich allfälliger durch den Bundesrat verfügten Verlängerungen).

Die COVID-19-Verordnung Insolvenzrecht beinhaltet hauptsächlich zwei Massnahmen: Eine befristete Entbindung von der Pflicht zur Überschuldungsanzeige gemäss Art. 725 OR, sowie die Einführung einer befristeten COVID-19-Stundung. Beide Massnahmen sollen Unternehmen schützen, die einzig aufgrund der Coronakrise in wirtschaftliche Schwierigkeiten (insb. Liquiditätsengpass oder Überschuldung) geraten sind. Zusätzlich sieht die COVID-19-Verordnung Insolvenzrecht gewisse temporäre Änderungen im etablierten System der Nachlassstundung vor.

Überschuldungsanzeige

Gemäss Art. 725 Abs. 2 OR muss ein Unternehmen bzw. dessen Exekutivorgan (i.c. der Verwaltungsrat) bei begründeter Besorgnis einer Überschuldung eine Zwischenbilanz erstellen und durch einen zugelassenen Revisor prüfen lassen. Ergibt sich aus der Zwischenbilanz, dass die Forderungen der Gesellschaftsgläubiger weder zu Fortführungs- noch zu Veräusserungswerten gedeckt sind, so ist der Richter zu benachrichtigen. Die Benachrichtigung des Richters hat in aller Regel zu Folge, dass der Konkurs über die Gesellschaft eröffnet wird. Von einer Benachrichtigung des Richters kann abgesehen werden, i) wenn Rangrücktritte in einem für die Deckung der Überschuldung ausreichenden Umfang vorliegen, oder ii) wenn begründete Aussicht auf finanzielle Sanierung der Gesellschaft innert kurzer Frist besteht. Werden die in Art. 725 OR vorgesehenen Massnahmen nicht rechtzeitig vorgenommen, führt dies zu Verantwortlichkeitsrisiken für die Exekutivorgane.

Um den Druck von den Exekutivorganen zu nehmen und um zu verhindern, dass verfrüht Insolvenzanträge gestellt werden, um drohende Verantwortlichkeitsrisiken zu minimieren, sieht die COVID-19-Verordnung Insolvenzrecht eine temporäre Befreiung von der Pflicht zur Überschuldungsanzeige gemäss Art. 725 OR vor. Die Befreiung von der Anzeigepflicht im Falle der Überschuldung gilt für sämtliche Rechtsformen von Unternehmen, die einer gesetzlichen Anzeigepflicht bei Kapitalverlust und bei Überschuldung unterstehen - insb. AG (Art. 725 OR), GmbH (Art. 820 OR), Genossenschaft (Art. 903 OR) und Stiftung (Art. 84a ZGB).

Gemäss Art. 1 Abs. 1 COVID-19-Verordnung Insolvenzrecht kann das Exekutivorgan (i.c. der Verwaltungsrat) auf eine Benachrichtigung des Richters gemäss Art. 725 Abs. 2 OR verzichten, wenn

  • die Gesellschaft am 31. Dezember 2019 (noch) nicht überschuldet war, und
  • Aussicht besteht, dass die Überschuldung bis am 31. Dezember 2020 behoben werden kann.

Der Entscheid des Exekutivorgans muss schriftlich begründet und dokumentiert werden. In der Praxis dürfte diese Pflicht vor allem mit Bezug auf die positive Zukunftsprognose (d.h. die Aussicht, dass die Überschuldung bis Ende 2020 behoben werden kann) relevant sein. Der Entscheid über die positive Zukunftsprognose ist vom Exekutivorgan zu treffen und kann von diesem nicht delegiert werden. Es ist davon auszugehen, dass Gerichte, die sich dereinst (im Nachhinein) mit (unzutreffenden) positiven Zukunftsprognosen befassen müssen die sog. Business Judgement Rule zur Anwendung bringen werden. Das Gericht wird mit anderen Worten nicht in das Ermessen der Exekutivorgane eingreifen, es sei denn, die Beurteilung der Zukunftsprognose war offenbar unhaltbar. Bereits heute wenden die Gerichte die Business Judgement Rule bei der retrospektiven Beurteilung von Geschäftsentscheiden regelmässig an.

Die COVID-19-Verordnung Insolvenzrecht sieht sodann vor, dass bei begründeter Besorgnis der Überschuldung weiterhin eine Zwischenbilanz erstellt werden muss (so bereits Art. 725 Abs. 2 OR), dass diese in Abweichung von der bisherigen Regel aber nicht durch einen zugelassenen Revisor geprüft werden muss. Ebenso entbindet die COVID-19-Verordnung Insolvenzrecht die Revisionsstelle von der Pflicht zur Benachrichtigung des Richters bei Untätigkeit des Exekutivorgans, sofern dieses infolge von Art. 1 Abs. 1 COVID-19-Verordnung seinerseits von der Pflicht zur Benachrichtigung des Richters temporär befreit ist.

COVID-19-Stundung für KMU

Das Schweizer Insolvenzrecht unterscheidet nicht, ob ein grosses oder ein kleines Unternehmen betroffen ist. Dies führt dazu, dass ein geläufiges «Sanierungsinstrument» des Insolvenzrechts, namentlich die Nachlassstundung gemäss Art. 293 ff. SchKG, für kleinere Unternehmen teilweise unattraktiv oder gar nicht möglich ist, weil das Verfahren zu kompliziert und zu teuer ist. Diese Problematik wird in der COVID-19-Verordnung Insolvenzrecht adressiert, indem für kleinere und mittlere Unternehmen (KMU) eine «COVID-19-Stundung» eingeführt wird. Damit kann KMU in einem raschen, unbürokratischen Verfahren eine vorübergehende Stundung (fälliger Forderungen) von drei Monaten gewährt werden, ohne dass ein Sanierungsplan vorliegen muss.

Die COVID-19-Stundung können einzig KMU in Anspruch nehmen, nämlich Unternehmen, die nicht:

  • Publikumsgesellschaften i.S.v. Art. 727 Abs. 1 Ziff. 1 OR sind (d.h. insb. keine börsenkotierten Unternehmen und keine Unternehmen, die Anleihensobligationen ausstehend haben)
  • zwei der nachfolgenden Grössen im Jahr 2019 überschritten haben
  1. Bilanzsumme von CHF 20'000'000;
  2. Umsatzerlös von CHF 40'000'000;
  3. 250 Vollzeitstellen im Jahresdurchschnitt.

Im Vergleich zu einer normalen Nachlassstundung wird die COVID-19-Stundung vom Nachlassgericht unter erleichterten Bedingungen gewährt:

  • Das um die COVID-19-Stundung nachsuchende KMU darf per 31. Dezember 2019 – unter Berücksichtigung allfälliger Rangrücktritte – nicht überschuldet gewesen sein.
  • Der Detailierungsgrad der mit dem Antrag auf Stundung einzureichenden Finanzinformationen ist geringer im Vergleich zur regulären Nachlassstundung. Die Vermögenslage ist lediglich glaubhaft darzutun und so gut wie möglich zu belegen.
  • Das KMU muss keinen provisorischen Sanierungsplan vorlegen; die Stundung wird vom Nachlassgericht ohne Prüfung der Sanierungsfähigkeit des Schuldners gewährt.
  • Anders als in der normalen Stundung wird bei der COVID-19-Stundung im Regelfall auf die Einsetzung eines Sachwalters verzichtet.

Bei gegebenen Voraussetzungen (d.h. insb. falls per Ende 2019 keine Überschuldungssituation vorgelegen hat, bzw. wenn diese über Rangrücktritte gedeckt war) wird die COVID-19-Stundung vom Nachlassgericht für höchstens drei Monate gewährt. Die Stundung wird immer öffentlich bekannt gemacht (Hinweis im Handelsregister und im SHAB). Auf Antrag kann die COVID-19-Stundung um weitere drei Monate verlängert werden. Eine spezielle «Exit-Bestimmung» existiert nicht. Entweder gelingt die Sanierung während der Dauer der COVID-19-Stundung und die Geschäftstätigkeit wird nach der Stundung unter den normalen Regeln fortgesetzt, oder der Schuldner wechselt von der COVID-19-Stundung in eine normale (provisorische) Nachlassstundung und beginnt ein ordentliches Nachlassverfahren.

Der COVID-19-Stundung unterliegen sämtliche Forderungen gegen den Schuldner, die vor der Bewilligung der Stundung entstanden sind. Davon ausgenommen sind Forderungen der «ersten Klasse» (Art. 219 SchKG), insbesondere also Arbeitnehmerforderungen (Löhne). Die der COVID-19-Stundung unterliegenden Forderungen, dürfen während der Stundung nicht bezahlt werden. Werden die Forderungen dennoch bezahlt, wird über das Unternehmen automatisch der Konkurs eröffnet.

Während der COVID-19-Stundung kann für der Stundung unterliegende Forderungen eine Betreibung weder eingeleitet noch fortgesetzt werden (eine Ausnahme gilt für pfandgesicherte Forderungen). Auch sind der Arrest oder andere Sicherungsmassnahmen ausgeschlossen. Verjährungs- und Verwirkungsfristen stehen für Forderungen, die der Stundung unterliegen, still.

Während der Stundung darf der Schuldner seine Geschäftstätigkeit fortsetzen. Nach der Stundung entstandene Forderungen dürfen – im Gegensatz zu vor der Stundung entstandenen Forderungen – während der Stundung bezahlt werden. Der Schuldner darf aber keine Rechtshandlungen vornehmen, durch die die berechtigten Interessen der Gläubiger beeinträchtigt, oder durch die einzelne Gläubiger zum Nachteil anderer begünstigt werden. Ohne richterliche Ermächtigung kann der Schuldner während der Stundung sodann nicht mehr in rechtsgültiger Weise Teile des Anlagevermögens veräussern oder belasten (z.B. mit Pfandrechten). Im Falle der Widerhandlung kann dem Schuldner die Verfügungsbefungnis über sein Vermögen entzogen werden, oder es kann der Konkurs angeordnet werden.

Schliesslich stellt die COVID-19-Verordnung Insolvenzrecht klar, dass die Exekutivorgane des Schuldners ihren gesetzlichen Anzeigepflichten bei Überschuldung (Art. 725 OR) nachkommen, indem ein Gesuch um COVID-19-Stundung gestellt wird.

Anpassungen der regulären Nachlassstundung

Die Gewährung einer regulären Nachlassstundung setzt gemäss Art. 293 lit. a SchKG voraus, dass dem Gesuch ein provisorischer Sanierungsplan beigelegt wird. Zur Entlastung der Nachlassgerichte soll für die Geltungsdauer der COVID-19-Verordnung Insolvenzrecht auf die Voraussetzung eines provisorischen Sanierungsplans und damit auf die Prüfung der Sanierungsfähigkeit des Schuldners verzichtet werden. Entsprechend wird auch die Regelung ausgesetzt, wonach das Gericht von Amtes wegen den Konkurs zu eröffnen hat, wenn die Aussicht auf eine Sanierung oder den Abschluss auf einen Nachlassvertrag offensichtlich fehlt.

Die Sanierungsfähigkeit wird zu einem späteren Zeitpunkt durch den Sachwalter geprüft. Bei fehlender Sanierungsfähigkeit muss der Sachwalter dem Gericht einen Antrag unterbreiten, damit dieses über das Unternehmen den Konkurs eröffnen kann.

Für weitere Fragen zu diesem Thema und bei allgemeinen Fragen zum Insolvenz-, Sanierungs- und Restrukturierungsrecht stehen wir Ihnen gerne zur Verfügung.